Archiv 2005 - 2001

01.11.2002

Lesen heißt Wiedererkennen

Pressemitteilung: Klaas Huizing über den barmherzigen Samariter

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Gespräch über das Lesen: Klaas Huizing und der Detmolder Pfarrer Eko Alberts.

Professor Dr. Dr. Klaas Huizing, der in Würzburg Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen lehrt, eröffnete den 70 Zuhörern eine überraschende Sicht auf die bekannte Gleichnisgeschichte vom barmherzigen Samariter, die der Evangelist Lukas verfasst hat. Huizings Deutung war eingebettet in ein leidenschaftliches und sehr persönliches Bekenntnis zum Lesen im Allgemeinen und zum Lesen der Bibel im Besonderen. Er begründete die Bedeutung des Lesevorgangs mit dem griechischen Wort für „lesen“, das zugleich „wiedererkennen“ bedeutet. So werde gelesen, „um wiederzuerkennen, was es heißt, empfindsam zu sein, sensibel zu werden für den Schmerz und die Demütigungen, eine Wiedererkenntis, die erschreckt und fasziniert, ein Wiedererkennen unserer eigenen Verwundbarkeit und Sterblichkeit“.
Genau das geschieht in der Geschichte von dem, der von Räubern überfallen wird und halbtot liegen bleibt. Priester und Tempeldiener sehen ihn und gehen vorbei – erst ein Samariter, Angehöriger eines verachteten Volkes, hilft ihm tatkräftig. Huizing: „Der Text verlangt vom Leser ein Wiedererkennen. Wie der Samariter soll der Leser in der geschundenen Existenz das wiedererkennen, was ihm eigentlich denkbar nahe verwandt ist, einen Menschen eben.“ Dem Leser werde also ein „Wahrnehmungsschleier“ weggezogen, damit er im Anderen seinesgleichen erkenne. In der Hilfe für diesen Schwerverletzten, so Huizings Überzeugung, liegt das radikal Neue begründet, das zum Siegeszug des Christentums führte: „Was überzeugt, ist diakonisches Handeln, das sich nicht um Schönheits- und Gesundheitsideale kümmert.“ Deshalb sei auch der Vorwurf, das Christentum sei leibfeindlich, ein altes Missverständnis.
Klaas Huizing, der mehrere erfolgreiche Romane geschrieben hat, unterstrich die hohe literarische Qualität der Autoren des Neuen Testaments und bekannte gleichzeitig, dass ihm diese lange nicht bewusst gewesen sei. Lange habe er das Vorurteil geteilt, „die Evangelien seien von unbegabten Schreiberlingen verfasst worden, und man könne auch nichts anderes erwarten von einer Religion, die ihr Stammklientel bei Fischern, Handwerkern und Sklaven besaß.“ Doch die Bibel sei weder ein dogmatisches Lehrbuch noch eine moralische Drohfibel, sondern „eine ästhetische Ur-Kunde“. Im Vergleich zu Lukas seien Autoren wie Platon oder Euripides „bemüht und blass“.
Landessuperintendent Gerrit Noltensmeier, Vorsitzender der Lippischen Bibelgesellschaft, erinnerte in seiner Begrüßung daran, dass am 31. Oktober 1517 die Erneuerung der Kirche mit der Veröffentlichung von Luthers Thesen ihren Ausgang nahm: „Reformationstag – das ist nicht Halloween, nicht leuchtende Kürbisse, sondern die Besinnung auf das Wort Gottes, das uns leuchtet.“

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