Archiv 2005 - 2001

31.10.2002

Das Gesundheitswesen braucht mehr Ehrlichkeit

Pressemitteilung: Vortrag in Lemgo über Krankheit und Geld

- -
   
Ob der Kranke oder das Geld im Mittelpunkt steht, war das Thema von Bernd von Nordheim von der AOK Ostwestfalen/Lippe im Gemeindehaus St. Nicolai.

Zu dem Vortrag in der Reihe „LebensFragen“ hatte die Nicolai-Gemeinde gemeinsam mit der Evangelischen Erwachsenenbildung der Lippischen Landeskirche eingeladen. Das Referat über Ethik und Ökonomie im Gesundheitswesen hörten 15 interessierte Zuhörer, darunter niedergelassene Ärzte, Verwaltungsmitarbeiter von Krankenhäusern und stationsleitende Krankenhausärzte.
Bernd von Nordheim nannte Gründe für die Finanznot der Krankenkassen: Mit der wachsenden Zahl der Betagten nehmen auch chronische Erkrankungen und Altersgebrechen zu. Die Hilfe in Familie und Nachbarschaft sei dagegen rückläufig, während die Ansprüche stiegen: „Wer zahlt, will Leistung“. Kostengünstiges Verhalten werde dagegen nicht belohnt. Zudem sei die Zahl niedergelassener Ärzte heute doppelt so hoch wie noch vor 25 Jahren. Kostenträchtiger medizinisch-technischer Fortschritt und höhere Arbeitslosigkeit, also sinkende Beitragseinnahmen, seien ebenfalls Gründe für die Finanznot. Der Regionaldirektor nannte Zahlen, die nachdenklich stimmten: Betrug der Beitragssatz 1970 noch 8,2 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Einkommens, so liegt er heute bei über 14 Prozent. Die Kosten für die Krankenkassen betrugen vor gut zehn Jahren noch 93 Millionen Euro, heute sind es 142 Millionen. „15 Prozent Beitragssatz sind nicht länger utopisch, erklärte der Referent. Er zitierte die hannoversche Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann, die bereits im Januar 2000 mehr Ehrlichkeit im Umgang mit dieser Problematik gefordert hatte: „Die demografische Entwicklung und die rasanten Fortschritte in der Medizin werden die Schere zwischen dem, was die Medizin leisten kann, und dem, was die Gesellschaft ermöglichen kann, immer weiter öffnen. Kostendämpfungsmaßnahmen dämpfen die Leistungserweiterung nicht. Vor diesen Fakten sollte niemand die Augen verschließen.“ Doch die Mühlen der Politik, die für Veränderungen sorgen könne, mahlen nach Nordheims Überzeugung zu langsam. „Alleine im letzten Jahr sind die Kosten für Arzneimittel um zehn Prozent gestiegen - aber eine Liste der wirklich notwendigen Medikamente existiert immer noch nicht.“ 40.000 Medikamente sind in Deutschland auf dem Markt, während Schweden - trotz seines hervorragend funktionierenden Gesundheitssystems - mit 4.000 auskommt.
Immerhin: Um das Solidarprinzip, wonach die Schwachen von den Starken getragen werden, „beneiden uns viele Staaten“. Doch diese Solidarität werde unter den gegebenen Umständen überstrapaziert.
In der anschließenden Diskussion entlud sich der Unmut der Zuhörer. Sie forderten eine Einbeziehung des Faktors Selbstverschulden. Risikosportarten, Alkohol- und Zigarettenkonsum - all das könne nicht auf Kosten der Allgemeinheit gehen. Doch auch hier müssten zunächst Gesetze vorliegen. Die Befürchtung, eine Zweiklassengesellschaft der Medizin könne entstehen, ließ sich nicht wegdiskutieren. Schon jetzt gibt es Leistungen, die ausschließlich im Rahmen einer Privatbehandlung erbracht werden. Ärzte im Kreis der Zuhörer befürchteten einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems in zehn Jahren. Doch dem wollte von Nordheim nicht zustimmen. Trotz allem bekannte er: „Ich glaube an das System.“ Das Fazit des Abends: Ethik im Gesundheitswesen ist zunächst nur durch mehr Ehrlichkeit möglich.

  • Twitter
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Windows Live